«Susanna»

Ein barockes Gemälde. Eine nackte Frau sitzt auf einer Steinbank, hinter ihr zwei bösartige alte Lüstlinge. Die Frau wendet sich gequält von den beiden Typen ab.
Sexualisierte Gewalt ist zeitlos: «Susanna e i vecchioni», Gemälde von Artemisia Gentileschi, 1610

Eine zeitlose Geschichte

Die Geschichte der Susanna ist zeitlos: Eine Frau wird sexuell belästigt, wehrt sich, die Belästiger beschimpfen sie öffentlich, die Öffentlichkeit glaubt den Verleumdern, die Frau wird verurteilt. In der biblischen Version der Geschichte soll die Frau daraufhin gesteinigt werden. Doch in letzter Sekunde wird sie durch Daniel, den zukünftigen Propheten, gerettet.

Juristische Sternstunde – und viele Bilder

Diese Geschichte, auf Deutsch unter dem Namen «Susanna im Bade» bekannt, gilt als Meilenstein der Rechtsgeschichte: Daniel überführt die beiden Verleumder, indem er sie getrennt voneinander verhört. In der bildenden Kunst wurde aber der erste Teil, die Belästigung und Bedrohung Susannas, zum Dauerbrenner: Über 1400 Darstellungen zählt Wikipedia. Eine der berühmtesten ist das Gemälde von Artemisia Gentileschi. Deutlich zeigt es Susannas Abscheu und Angst vor ihren Belästigern.

Susanna-Schauspiele

Auch die Literatur hat zahlreiche Versionen der «Susanna» hervorgebracht, darunter im 16. Jahrhundert mehrere deutschsprachige Schauspiele. Im Engadin entstand im 16. Jahrhundert eine romanische Version, eine Nachdichtung des deutschsprachigen Schauspiels «Die history von der frommen Gottsförchtigen frouwen Susanna» von Sixt Birck. Der Autor bzw. Übersetzer ist unbekannt.

Im Engadin boomt das religiöse Theater ...

Diese romanische «Susanna» war eines von zahlreichen religiösen Schauspielen, die im 16. Jahrhundert im reformierten Engadin geschrieben und aufgeführt wurden. Der Reformator, Dichter und Chronist Durich Chiampell beschreibt die Aufführung seines Schauspiels «Judith und Holofernes» in Susch im Jahr 1554 und erwähnt ein Schauspiel über die Geschichte des verlorenen Sohnes vom Jahr 1542. In einem Artikel von 1878 zählt Alfons Flugi fürs Engadin des 16. Jahrhunderts insgesamt vierzehn religiöse Dramen, von denen zu seiner Zeit fünf erhalten waren. Einige davon waren Komödien, darunter die «Susanna».

... und verkommt zum «schmutzigen Gewerbe»

Ende des 16. Jahrhunderts war der Boom vorüber. Schon Campell hatte beklagt, dass die Schauspiele von einer «unschuldigen, anständigen Unterhaltung» immer mehr zu einem «schmutzigen Gewerbe» verkommen waren. Für das 17. Jahrhundert zählt Flugi nur drei romanischsprachige Schauspiele: eine derbe Komödie, die 1674 in Zuoz aufgeführt wurde, und zwei religiöse Singdramen. Eines davon ist die «Susanna» von Christoffel Brünett.

Die «Susanna» von Christoffel Brünett

Im Jahr 1662 schrieb der Pfarrer von Latsch, Christoffel Brünett, seine «Histoargia da Süsanna»: keine Komödie, sondern ein ernstes Stück in über 500 vierzeiligen Strophen. Es ist in drei Abschriften überliefert, von denen sich heute zwei (von 1764 und 1819) im Staatsarchiv Graubünden befinden, die dritte von 1720 in der British Library. Die Londoner Abschrift stammt von einem späteren Latscher Pfarrer, Peider Juvalta. Vermutlich erstellte er sie im Auftrag der Familie von Salis, für die er zahlreiche weitere Kopialbücher anfertigte. Wie und wann das Manuskript nach London gelangte, ist unbekannt – erworben hat es die British Library im Jahr 1869 von einem gewissen Dr. Heidenheim.

Foto eines alten Buchmanuskripts. Text auf romanisch, hier deutsche Übersetzung: Die Geschichte von Susanna. Aus dem 13. Buch Daniel und zu singen zur Melodie von Psalm 100 von Lobwasser, "Eau bunas nouvas voelg chiantar" und "es kompt die liebe Früelings
«L'Histoargia da Süsanna»: Titelseite der Abschrift von Peider Juvalta, 1720

Wissenschaftlich kaum erforscht

Brünetts «Susanna» ist sprach- und literaturhistorisch noch kaum erforscht. Die einzige Publikation ist weit über 100 Jahre alt: In Band 8 des Archivio Glottologico Italiano (1882–1885) druckte der Romanist Jakob Ulrich den Text des Londoner Manuskripts ab, ergänzt durch einige Hinweise zum Vokabular. Es ist zu hoffen, dass sich demnächst jemand dieser wertvollen Quelle annimmt!

Didaktisches Singdrama statt Schauspiel

Ob Brünetts «Susanna» je aufgeführt wurde, ist unbekannt. Wenn, dann wäre es wahrscheinlich keine szenische Aufführung gewesen, sondern eine gesungene. Brünett selber gibt am Anfang an, zu welchen Melodien sein Stück gesungen werden kann: Psalm 100 nach Lobwasser, ein romanisches Kirchenlied namens «Eau bunas nouvas voelg chiantar» sowie ein deutsches Lied mit dem Titel «Es kommt die liebe Frühlingszeit». Eine weitere Absicht verrät Brünett in der Vorrede: Die Kinder von Latsch und Bergün sollen lernen, in der Bergüner Sprache zu schreiben.

Eine Reaktion auf die Hexenverfolgung?

Welches Motiv Pfarrer Brünett veranlasste, eine «Susanna»-Version zu dichten, wissen wir nicht. In «Bergünerstein II Der Mord» erklärt er Luzia, er habe mit dem Stück dem Übel der Hexengerüchte entgegenwirken wollen. Diese Aussage ist eine Erfindung der Autorin; unrealistisch ist sie aber nicht. Die Parallelen zwischen der Verleumdung Susannas und den Denunziationen gegen unbeliebte Nachbarinnen und Nachbarn im Zuge der Hexenverfolgungen scheinen offensichtlich. Und wenige Jahre nach der «Susanna», nämlich 1668, kam es in Bergün tatsächlich zu einer Serie von Hexenprozessen. Hatte Brünett die Vorzeichen erkannt und darauf reagiert?

Anachronismen im «Bergünerstein»

Brünett schrieb seine «Susanna» als Singdrama. Die Forschung nimmt an, dass derartige Stücke, wenn überhaupt, dann rein gesungen aufgeführt wurden. Noch wahrscheinlicher ist, dass sie nicht aufgeführt, sondern im häuslichen Kreis miteinander gesungen wurden. Die Melodie diente dabei als Hilfsmittel, um sich den langen Text merken zu können. Die Aufführung der «Susanna» als Bühnenstück in «Bergünerstein II Der Mord» ist daher wahrscheinlich anachronistisch.

Auch dass in «Bergünerstein» Giunfra Anna die Susanna spielt, ist historisch unwahrscheinlich. In der Beschreibung der Aufführung seines Judith-Stücks im Jahr 1554 betont Durich Chiampell zwar, dass Judith von einer echten Frau gespielt wurde. Im Jahr 1662 wäre dies aber kaum mehr möglich gewesen.

Dichterische Freiheit dank Forschungslücken

Allerdings ist das Theater im Graubünden des 17. Jahrhunderts noch wenig erforscht (eine grössere Studie ist unterwegs und wird vielleicht Licht auf die Sache werfen). Vorerst aber wissen wir wenig über tatsächliche Aufführungspraktiken; und was ein Pfarrer mit den Kindern und Jugendlichen seiner Gemeinde alles unternahm, bleibt mangels Quellen noch viel mehr im Dunkeln. Diese Wissenslücke nützt «Bergünerstein» aus und gestaltet die Aufführung der «Susanna» mit dichterischer Freiheit.

Sexualisierte Gewalt und Traumafolgen

Diese dichterische Freiheit hat sich die Autorin nicht ohne Grund herausgenommen. Wie ganz oben gesagt, ist die Geschichte der Susanna eine zeitlose Geschichte über sexualisierte Gewalt, Verleumdung und «Victim Blaming». Somit passte die Latscher «Susanna» von 1662 nicht nur bestens zum Thema Hexenverfolgung, sondern auch zur Lebensgeschichte von Luzia. Es war daher dramaturgisch nötig, dass die «Susanna» öffentlich aufgeführt und diskutiert wurde und dass auch Luzia, die bekanntlich nicht gerne singt, das Stück intensiv miterlebt. Eine szenische Aufführung mit von Luzia produzierten Kostümen war daher geboten.

Literatur

Quellen

Handschriften der Susanna-Komödie aus dem 16. Jahrhundert: StAGR A 35, A 520, A 702

Handschriften der Susanna von Christoffel Brünett: StAGR A 38, A 586/7, British Library MS Egerton 2101

Susanna-Komödie, gedruckt: Susanna: ein oberengadinisches Drama des XVI.  Jahrhunderts [Sixt Birk]; mit Anmerkungen, Grammatik und Glossar hrsg. von Jakob Ulrich, Frauenfeld, 1888

Susanna von Christoffel Brünett, gedruckt: Archivio Glottologico Italiano, Vol. 8, 1882–1885, S. 263–303; Anmerkungen: Vol. 9, 1886, S. 107–109

Susanna in der bildenden Kunst

Übersicht: Wikipedia (englisch)

Susanna und #MeToo: Auf die Mitwissenden kommt es an! (Kia Vahland in der Republik vom 18. Oktober 2022)

Theater im alten Graubünden

Alfons v. Flugi: Die ladinischen Dramen im sechszehnten Jahrhundert. In: Gallica. Zeitschrift für romanische Philologie, 1878

Alfons v. Flugi: Ladinische Dramen im siebenzehnten Jahrhundert. In: Gallica. Zeitschrift für romanische Philologie, 1880

Manfred Veraguth: Theatergeschichte der Drei Bünde (im Entstehen; Projekt am Institut für Kulturforschung Graubünden)